Von Andrea Zhok | Originaltitel: L’era delle distopie | Quelle
1) Kollisionskurse
In der heutigen Zeit erleben wir eine verschärfte Neuauflage des Systems der Widersprüche, welches für die kapitalistische Ordnung von Beginn an kennzeichnend war. Das mit der kapitalistischen Produktionsweise verbundene strukturelle Problem ist ihr „beständig zunehmender exponentieller“ Charakter, d.h. die ihr innewohnende Tendenz, Prozesse der „positiven Rückkopplung“, des „Zinseszinses“ und des unbegrenzten Wachstums zu fördern.
Anders ausgedrückt: Der Mechanismus des durch seine eigene Vermehrung funktionierenden Kapitals neigt dazu, alle Produktionsfaktoren ständig in die gleiche Richtung zu treiben, wodurch ein systembedingtes Ungleichgewicht entsteht. Das System treibt also das unbegrenzte Wachstum der Produktion, das unbegrenzte Wachstum der Kapitalakkumulation auf die Spitze, das unbegrenzte Wachstum der Ausbeutung der Menschen, das unbegrenzte Wachstum der Ausbeutung der Natur.
Das haben Marxisten früher unter „Widersprüche des Kapitalismus“ verstanden. Jede dieser Tendenzen gerät systembedingt in Konflikt mit den sozial, menschlich und ökologisch ausgewogenen Ordnungen: die Kluft zwischen oben und unten in der sozialen Pyramide wird immer breiter, Verbrauch und Verschwendung von Ressourcen steigen an, die Verflüssigung von kollektiven Organisationsformen (Familien, Gemeinschaften, Staaten usw.) und persönlichen Identitäten nimmt zu. Während man sich die Welt und das Leben nach dem organischen Modell von Systemen mit negativer Rückkopplung vorstellen kann, in denen Störungen des Gleichgewichts wiederhergestellt und korrigiert werden, funktioniert der Kapitalismus als unbegrenzte und unkontrollierte Ausbreitung, buchstäblich als ontologisches Krebsgeschwür.
Da Marx als erster die Natur des Problems erfasst hat, verbindet man diese Erkenntnis historisch bedingt mit der Suche nach Lösungen „antikapitalistischer“, sozialistischer, kommunistischer oder ähnlicher Art. Daher wird häufig davon ausgegangen, dass „die Menschen“ bei diesen Analysen an erster Stelle stehen sollten. Diese Sichtweise übersieht eine tatsächliche Realität: Diejenigen, die die Marxschen und postmarxistischen Analysen am ernstesten nehmen, sind seit langem die Mächtigen innerhalb des Systems, die sich am intensivsten damit befassen, was ihre Position untergraben könnte: Es sind die Kapitalisten, die „Herren des Dampfes“, die sich heute am intensivsten mit den Problemen des Kapitalismus befassen.
2) Die „Dampfmacher“
Wenn wir allgemein von „Kapitalisten“, „Oligarchien“, „Eliten“ usw. sprechen, erweckt das unweigerlich den Verdacht einer übermäßigen Vagheit der Begriffe. Wer ist gemeint? Man würde gerne das Subjekt der Macht benennen können, so wie man es in der vormodernen Welt tun konnte, indem man den König, den Papst, den Kaiser, diesen Feudalherrn, jenen Höfling usw. benannte. Heute jedoch ist die Nennung von Namen eine Verfälschung der Realität. So wichtig die Menschen auch sind, das System hat eine enorme Fähigkeit, seine Mitglieder auf jeder Ebene zu ersetzen, auch an der Spitze. Zu wissen, wer der CEO von BlackRock oder Vanguard ist, bringt uns nicht näher an das Verständnis, wer die Macht ausübt, denn es geht nicht darum, wie bestimmte Personen ihre Funktionen ausüben.
Ein weiterer Fehler, in den wir nicht verfallen dürfen, ist die – von der Ideologie der Macht selbst genährte – Annahme, dass die Existenz einer Vielzahl von „Dampfmachern“ und nicht eines einzigen „Herrschers“ irgendwie eine Diversifizierung der Interessen und Projekte und damit eine gewisse „Demokratisierung“ des Systems garantiert (z.B.: „die Existenz verschiedener Kapitalisten impliziert verschiedene Herren der Zeitungen und damit eine Pluralität der Informationen“). Das ist eine große Naivität. An dem Tag, an dem der CEO von BlackRock den zapatistischen Geist und die Sehnsucht, die Befreiung von Chiapas zu unterstützen, wiederentdeckt, würde er aufhören, CEO zu sein und ersetzt werden (mit Abfindung, natürlich). Die Grundlagen lassen sich nicht ändern, und sie haben nur ein einziges Ziel: die Aufrechterhaltung der Macht derjenigen, die sie besitzen. Man sollte sich auch nicht auf eine bestimmte „kapitalistische“ Orthodoxie fixieren. Die Finanzoligarchien sind nicht „kapitalistisch“ aus ideeller Liebe zum Kapitalismus: Er ist kein Religionsersatz. Das ist einfach nur die äußere Form, in der sie ihre Macht ausüben. Wenn der Verzicht auf diesen oder jenen ideologischen Aspekt den Erhalt und die Konsolidierung der Macht begünstigt, steht dem nichts im Wege.
Aber wer sind diese „Dampfmacher“ eigentlich? So etwas wie die heutige Konzentration von Macht ist in der Geschichte ohne Beispiel: ein paar hundert Menschen halten die Zügel der größten (angloamerikanischen) Finanzkonzerne der Welt und dessen, was Eisenhower den amerikanischen „militärisch-industriellen Komplex“ nannte. Diese Gruppen verfügen über alle grundlegenden Hebel der Macht, sind in der Lage, die politischen Entscheidungen in ihren Heimatländern (in erster Linie die USA) zu steuern und wirken kaskadenartig auf alle Staaten ein, die ihnen untergeordnet sind oder bei denen sie verschuldet sind. Es gibt keine solchen Gegenmächte außerhalb der westlichen Welt, denn sie entziehen sich dem Einfluss der ersteren, da die Macht anderswo, selbst die unflexibelste, in jedem Fall von politisch motivierten Instanzen beherrscht wird ( in erster Linie Nationalismus).
Diese westlichen Spitzeneliten werden durch die Motivation der Erhaltung einer wirtschaftlich basierten Macht zusammengehalten und verfügen über Koordinationskapazitäten, die jeder anderen Interessengruppe immens überlegen sind: Sie haben institutionelle und nicht-institutionelle Treffpunkte und Modalitäten, sie verfügen über Ressourcen, die eine Vielzahl von Absprachen und Kommunikationen auf verschiedenen, inoffiziellen oder klandestinen Wegen ermöglichen.
Wer erwartet, eine Liste der Herrscher und Thronfolger zu erhalten, um einen Angriff auf den „Winterpalast“ zu planen, und in Ermangelung einer solchen Liste das Problem lieber als Vermutung oder Verschwörungstheorie abtut, ist leider ein unwissender Komplize der Macht.
Nur selten streben Angehörige der Spitzeneliten nach öffentlicher Prominenz, und die wenigen, die dies tun, sind Opfer ihrer eigenen Ideologien und haben sich selbst davon überzeugt, dass sie „paternalistische Erlösungsmaßnahmen“ durchführen (die üblichen Namen, die kursieren, sind Schwab, Soros, Gates usw.). Die intelligentesten unter ihnen wissen sehr genau, dass ihre Macht nicht durch einen öffentlichen Konsens entsteht und dass ihr öffentliches Auftreten sie nicht stärkt, sondern sie entlarven und schwächen würde.
Es ergibt sich also folgendes Bild: Eine kleine Gruppe von Individuen, die im zeitgenössischen Kapitalismus eine herausragende Stellung eingenommen hat, verfügt über eine nie dagewesene Machtkonzentration und bewegt und koordiniert sich (unter Berücksichtigung persönlicher Besonderheiten) mit dem Ziel, diese Macht zu erhalten und zu festigen. Zugleich ist sich diese exklusive Spitzengruppe der krisenhaften Tendenzen des Systems, an dessen Spitze sie steht, vollkommen bewusst. Wir müssen aufhören, uns den Kapitalisten als Lebemann vorzustellen, der sich Sexgespielinnen, Yachten und edle Weine gönnt. In diesem hedonistischen Horizont bewegen sich typischerweise Menschen aus der Mittelschicht und Neureiche. Das konsolidierte Kapital („altes Geld“) schmiedet andere Menschentypen, die entweder über eine angemessene Ausbildung verfügen, um die Probleme des Systems zu verstehen, oder daran gewöhnt sind, Think Tanks zu bezahlen, die diese Arbeit für sie erledigen.
3) Die Perspektiven der Spitzeneliten
Wir müssen daher die Annahme ins Zentrum rücken, dass die Konfliktlinien innerhalb des Systems des Kapitals den „Dampfmachern“ sehr wohl bekannt sind. Es sind nur ihre liberalistischen Laufburschen, die mit ihrem „perfekten Markt“, dem „langfristig erzielten allgemeinen Gleichgewicht“ und anderen Verlockungen weiterhin Nebelkerzen werfen. Diese üppig finanzierten intellektuellen Hilfskräfte besetzen oft prestigeträchtige akademische Posten, und ihre Funktion besteht darin, einen dichten ideologischen Nebel zu erzeugen, der hundert Jahre alt ist, um die Energien der Kritiker zu zerstreuen. Es handelt sich um einen Verteidigungskampf von Infanteristen in vorderster Linie, die versuchen, ihre Gegner von der eigentlichen Front fernzuhalten. Die meisten sind zu dumm, um zu begreifen, dass sie lediglich als Scheinziele fungieren.
Dass der beschleunigte Ersatz von Arbeitern durch Maschinen zu einem strukturellen Ungleichgewicht im Produktionssystem führt, mit einem Überschuss an potenziellem Produkt gegenüber dem Verbrauch und einem Überschuss an ohnmächtiger Nachfrage (Konsumenten ohne Kaufkraft) gegenüber einem überbordenden Angebot, ist völlig klar und offensichtlich.
Dass dies zur Existenz einer riesigen überflüssigen Bevölkerung führt – und es wäre übertrieben, sie als „Reservearmee des Kapitals“ zu betrachten –, zu einer Vielzahl von Mäulern, die es zu füttern gilt, und zu unzufriedenen Menschen mit Aufregungspotenzial, das ist ebenfalls einleuchtend.
Dass ein System des grenzenlosen Wachstums am Ende das gesamte System in dem wir leben – das ökologische wie das gesellschaftliche– untergräbt, ist ebenso klar.
Die vorrangigen Bruchlinien, auf die die Eliten achten, sind daher: 1) soziale Verwerfungen (Gefahr von Revolten); 2) ökologische Verwerfungen (Gefahr der Destabilisierung des ökologischen Gleichgewichts); 3) finanzielle Verwerfungen (endgültiger Zusammenbruch der Wachstumserwartungen und damit der Annahmen des Systems).
Der Irrtum der Erben der ersten Linie der kritischen Analyse, nämlich des Marxismus, besteht darin anzunehmen, dass das Erkennen dieser Tendenzen an sich ein Eintreten für eine Perspektive der „Überwindung des Kapitalismus“ impliziert, mit der Suche nach sozialen Formen, in denen Entmenschlichung und Entfremdung vermieden werden, und die ein Gleichgewicht des Systems wiederherstellen („jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“).
Dies zeugt von großer Blauäugigkeit. Die Spitzeneliten des heutigen Systems wissen um die Widersprüche des Systems, aber das bedeutet keineswegs, dass sie es aufgeben wollen. Das ist nicht verwunderlich, denn kein Machtblock in der Geschichte hat jemals spontan die Macht abgegeben. Es geht hier darum, gut zu verstehen, welche Perspektiven diese Macht eröffnet, denn dies kann uns das Spektrum der abgründigen Risiken in der heutigen Zeit aufzeigen (jene Risiken, die oft in Form von „Verschwörungstheorien“ verwirrt ausgedrückt und daher diskreditiert werden).
3.1) Sich Zeit lassen mit Marktlösungen
Die erste Perspektive ist die am wenigsten radikale und die schwächste, aber sie ist auch diejenige, die offen und ohne Bedenken geäußert werden kann. Es geht darum, die Idee zu vermitteln, dass es für jedes Problem potenziell eine Antwort gibt, die durch technologische Entwicklungen auf dem Markt gegeben werden kann. Diese Idee wird den Medien-Schwätzern als eine realistische Option suggeriert, während sie tatsächlich bloß dazu dient, gewisse Entwicklungen zu verlangsamen, wodurch eine weitere Kapitalakkumulation ermöglicht wird. So wird in den Token-Medien immer wieder die rettende Aussicht auf Elektroautos, Atomkraft, Euro 7 usw. als Antwort auf ein einziges, sorgfältig ausgewähltes Umweltproblem (die globale Erwärmung?) propagiert. Diese selektive Fokussierung erweckt den Eindruck, dass es stets um die Lösung eines übergeordneten Problems geht, was die Suche nach technischen Lösungen plausibel erscheinen lässt. Auf diese Weise lässt sich in diesen Sektoren Zeit gewinnen, die öffentliche Aufmerksamkeit durch das Wecken von Hoffnungen ablenken und die öffentliche Politik gewinnbringend steuern.
Natürlich tragen diese sektoralen Aktivitäten, die alle das strukturelle Streben nach immerwährender Innovation und immerwährendem Produktionswachstum gemein haben, bloß noch mehr zum Prozess der systemischen Destabilisierung bei. Im besten Fall können technologische Ad-hoc-Lösungen ein Problem vorübergehend lösen, während gleichzeitig zehn weitere in Form von systemischen Externalitäten entstehen.
3.2) Krieg als Welthygiene
Die zweite Perspektive ist ein klassischer, radikalerer Lösungsansatz, der es ermöglicht, den Schaden entlang mehrerer Verwerfungslinien vorübergehend einzudämmen. Wenn ein Krieg angezettelt werden kann, ist er, zumindest für die betroffenen Länder, eine wirksame Lösung, da er gleichzeitig: die Bevölkerung im Zaum hält und soziale Proteste blockiert; einen Raum des rasenden Konsums (und damit der Kapitalrente) schafft, ohne der Bevölkerung Kaufkraft zu verleihen; andere soziale Prozesse verlangsamt, den menschlichen „ökologischen Fußabdruck“ verringert und im besten Fall auch die Bevölkerung reduziert. Diese Lösung funktioniert im Idealfall umso besser, je mehr Länder beteiligt sind. Wenn ein Konflikt militärisch begrenzt ist, wird er keine Auswirkungen auf die Bevölkerungszahlen haben, aber er wird dennoch in anderer Hinsicht wirksam sein (Reglementierung und soziale Disziplinierung + wirtschaftliche Auszehrung in einem postmodernen „Potlatch“, bei dem riesige Ressourcen verbrannt werden, um die Konsummaschinerie in Gang zu setzen).
Ein dauerhafter Weltkrieg von niedriger Intensität wäre in der Tat eine perfekte Lösung: Er würde es idealerweise ermöglichen: 1) jeden Widerstand oder jede soziale Revolte im Namen der heiligen Opposition gegen den äußeren Feind zu brechen; 2) die Energien in einer unendlichen Produktion zu konzentrieren, die auf einen unendlichen Konsum abzielt, der jede Marktsättigung ignoriert; 3) die Bevölkerung schrittweise zu reduzieren.
Diese Perspektive ist jedoch höchst instabil und selbst für die Spitzeneliten, so mächtig sie auch sein mögen, nicht leicht zu kontrollieren. Es ist relativ einfach, eine Reihe von Konflikten in ohnehin konfliktbeladenen und politisch schwachen Gebieten zu provozieren, aber ein Zustand dauerhafter weltweiter Kriege mit niedriger Intensität lässt sich nicht so ohne weiteres orchestrieren und birgt die ständige Gefahr, entweder im Sande zu verlaufen oder eine nukleare Eskalation auszulösen, in die am Ende sogar die Spitzeneliten in gewissem Maße verwickelt würden.
3.3) Kontrollgesellschaft
Die dritte Perspektive ist seit langem offenkundig und dreht sich um die Umwandlung des liberalen ideologischen Modells in ein autoritäres Modell, ohne dass sich sein Erscheinungsbild um ein Jota ändert. Die heutige westliche (aber nicht nur die westliche) Gesellschaft ist stärker reguliert, mit Gesetzen belegt und überwacht als jede andere Gesellschaft in der Geschichte. Es gibt nicht nur mehr und detailliertere Gesetze als in der Vergangenheit zu Verhaltensweisen, die in der vormodernen Welt nicht Gegenstand der Gesetzgebung waren, sondern die gesteigerten technologischen Möglichkeiten ermöglichen auch ein noch nie dagewesenes Maß an Umsetzung und Kontrolle dieser Normen.
Da jede Macht einen intrinsischen Anreiz hat, ihre Fähigkeit zur Kontrolle zu erhöhen, geschieht dies in der liberalen Welt auf paradoxe Weise auf der Grundlage des Anspruchs, sich für die „Förderung der Freiheit“ einzusetzen. Um eine Ideologie der Freiheit in eine Ideologie der Kontrolle umzuwandeln, nutzt der Neoliberalismus systematisch die Idee der „Viktimisierung“ oder „Verletzlichkeit“ einer Gruppe. Sobald eine bestimmte Gruppe als potenziell beleidigt oder als in ihren natürlichen Rechten oder Menschenrechten verletzt identifiziert worden ist, können Zwangsmaßnahmen im Namen dieser „Opfer“ ergriffen werden, etwa um ihre potenzielle Viktimisierung zu verhindern. Dieser Mechanismus funktioniert sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch international. Man kann zwangsweise in die Meinungsfreiheit unter dem Vorwand des „Schutzes der Empfindlichkeiten“ dieser oder jener Gruppe eingreifen, man kann mit Zwangsmedikalisierung (oder Impfpässen) eingreifen, um „die Schwachen zu schützen“, genauso wie man als „internationale Polizei“ eingreifen kann, um „die Menschenrechte“ in dieser oder jener Region der Welt zu verteidigen. Die gleiche Logik erlaubt die Verbreitung von Überwachungskameras an jedem öffentlich zugänglichen Ort oder die Verletzung jeder privaten Kommunikation im Namen des „Sicherheitsschutzes“ usw.
Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass die heute verfügbaren Kontrolltechnologien außerordentlich ausgeklügelt sind und dass die Möglichkeiten der Überwachung (und der Sanktionierung) nahezu grenzenlos sind, sobald der Damm der gesetzlichen Rechtfertigung gebrochen ist.
Das Interesse der Spitzeneliten an einem umfassenden System der Überwachung, der Steuerung und der Sanktionierung liegt auf der Hand. Es wird stets als „Verteidigung der Schwachen“ dargestellt werden, während es in Wirklichkeit ein Ansatz ist, der den Schwachen und Machtlosen jede Möglichkeit nimmt, zu einer Bedrohung für diejenigen zu werden, die an der Macht sind.
3.4) Entvölkerung
Während Überwachung und Kontrolle die von der Unzufriedenheit der Massen ausgehende Gefahr entschärfen können (eine Unzufriedenheit, die, solange sie sich auf einem niedrigen Niveau bewegt, noch mittels einfacher Zerstreuungs- und Unterhaltungsmaßnahmen eingedämmt werden kann), birgt das Problem der wirtschaftlich „nutzlosen und schädlichen“ Überschussbevölkerung eine ganz andere Versuchung, die man nicht unterschätzen sollte, nur weil sie „skandalös“ klingt. Länder ohne einen liberalen ideologischen Rahmen, wie China, können es sich leisten, sich offen mit Fragen der demografischen Kontrolle auseinanderzusetzen, wie es bei der „Ein-Kind-Politik“ der Fall war. Im liberalen Westen ist diese Möglichkeit einer offenen Diskussion ausgeschlossen. Denn dies würde bedeuten, dass auch für die Eliten peinliche Themen (angefangen beim „protzigen Konsum“) ins Bewusstsein zu gelangen drohten. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Versuchung, von oben zu intervenieren, nicht vorhanden wäre.
In dieser Frage ist es nicht möglich, über Vermutungen und Mutmaßungen hinauszugehen, aber man sollte nicht die Verlockung unterschätzen, heimlich technologische Lösungen einzusetzen, um die Fruchtbarkeit einzuschränken oder die Sterblichkeit zu erhöhen (vorzugsweise für diejenigen, die nicht mehr im arbeitsfähigen Alter sind).
3.5) Neo-Feudalismus oder Nazismus 2.0?
Alle bisherigen „Lösungen“ bleiben innerhalb des kapitalistischen Rahmens mit den ihm innewohnenden Mechanismen und Widersprüchen. Das bedeutet, dass es sich im Wesentlichen immer um Vorstöße handelt, die darauf abzielen, Zeit zu gewinnen, indem bestimmte Prozesse verlangsamt oder die Zeiger der historischen Uhr zurückgedreht werden. Ein radikaler Ausstieg der kapitalistischen Herrschaft aus dem kapitalistischen Modell ist nur mit dem Versprechen denkbar, die gegenwärtigen Machtverhältnisse zu kristallisieren (ein Ausstieg in Richtung einer sozialistischen Demokratie ist daher nicht sonderlich beliebt).
Im Rahmen eines Finanzkapitalismus wie dem heutigen können die Konkretisierungen der Macht schwach sein, denn eine gewisse Kapitalisierung hängt in erster Linie von den Erwartungen des Konsums ab. Diejenigen, die große Mengen an liquiden Mitteln besitzen, verfügen über eine potenzielle Kaufkraft, die ganz von den Aussichten auf die Verfügbarkeit von Vermögenswerten und dem öffentlichen Vertrauen in Kreditsicherheiten abhängt. Diese Macht ist dieselbe, die eine Banknote ausübt, ein virtuelles Objekt, das in dem Moment zu Altpapier werden kann, in dem man es nicht mehr für geeignet hält, die Lieferung von Waren zu vermitteln. Aus diesem Grund und wegen der Notwendigkeit, den Schein und die Erwartungen zu wahren, muss der Finanzkapitalismus der Steuerung des Medienapparats besondere Aufmerksamkeit schenken. Aber in jedem Fall sind der Steuerung von Erwartungen Grenzen gesetzt, da die Mechanismen des wirtschaftlichen Wettbewerbs selbst ständig destabilisierende Verwerfungen hervorrufen.
In der kapitalistischen Welt ist die „flüssige“ Macht weitaus mächtiger (aufgrund ihrer maximalen Mobilität und Wandelbarkeit) als jede „feste“ Macht (das Eigentum an realen Gütern). Allerdings verleihen Sachwerte eine langfristige Stabilität, die liquides Kapital nicht bieten kann. Daher ist die Aussicht auf einen möglichen „postapokalyptischen“ Ausstieg aus dem kapitalistischen Modell mit seinen Widersprüchen für die Spitzeneliten nur denkbar im Rahmen eines Übergangs zu einer Art „Neo-Feudalismus“, in dem liquide Macht wieder in materielles Eigentum (Land, Immobilien, Rüstung, Technologie usw.) umgewandelt wird.
Allerdings taucht hier ein Problem auf, das das Bild völlig verändert. Der historische Feudalismus funktionierte auf der Grundlage eines Systems der Legitimation (einschließlich der Legitimation zum Eigentum), das von Tradition und Religion abhängig war. In der heutigen Welt sind diese beiden Faktoren als Legitimationsgrundlage weggefegt worden. Die Frage ist also: Wie könnte ein System der Legitimation von Macht und Eigentum in einem „Neo-Feudalismus“ ohne Tradition und Religion funktionieren?
Macht war in der Geschichte der Menschheit schon immer, selbst in den autoritärsten Kulturen, von der allgemeinen Anerkennung der Legitimität der Macht bestimmt. Solange die meisten die Legitimität einer Macht anerkannten oder zumindest nicht in Frage stellten, blieb sie funktionsfähig. Diese Macht funktionierte, indem sie sich kontinuierlich über Zwischenstufen von oben nach unten übertrug (vom König zu den Vasallen, von den Feudalherren zu den Rittern, von den Bauern zu den Leibeigenen). Diese Form der Macht hat also immer einen menschlichen Bezug, und zwar im Bereich der Anerkennung. Aber wenn die eigentliche Legitimationsgrundlage verloren geht, wie kann dann die Macht von oben nach unten ausgeübt werden? In einem kapitalistischen System ist Reichtum Macht, ohne dass es einer Anerkennung bedarf, denn Macht wird als Kaufkraft anerkannt, die durch das Wirtschaftssystem garantiert wird. Wenn das System zusammenbricht, bricht diese Form der Anerkennung der unpersönlichen Macht zusammen. Wie könnte eine neue Macht ohne Anerkennung der Legitimität funktionieren?
Technisch gesehen ist die Antwort einfach: Sie müsste die Macht des „Mittels“, das durch das Geld repräsentiert wird, durch ein anderes externes Mittel ersetzen, das für diesen Zweck geeignet ist. Konkret ist die plausibelste Aussicht, dass dies durch die Manipulation von Mitteln geschieht, die Angst einflößen, eine Angst, die die Wenigen den Vielen direkt einflößen können müssen.
Eine solche Aussicht war in der Vergangenheit unerreichbar, aber der technologische Fortschritt hat diese Möglichkeit seit langem stetig gefördert, nämlich die Möglichkeit, dass sich ein abgegrenztes Zentrum durch die Verstärkung von Effekten der Masse aufdrängt. Ein Schwert kann sich gegen vielleicht fünf unbewaffnete Menschen durchsetzen, eine Pistole gegen zehn, eine Bombe gegen tausend. Und mit der technischen Steigerung der Macht hat auch die Schwierigkeit, sie einzusetzen, abgenommen: Es ist heute leichter, eine Bombe zu zünden, als früher ein Schwert zu schwingen. Aber wir dürfen uns technologische Macht nicht einfach als die Ausübung roher Gewalt vorstellen. Denken wir lieber an eine aktuelle Situation wie die Existenz von gentechnisch verändertem Saatgut, bei dem das Saatgut für die nächste Ernte nicht mehr nachgepflanzt werden kann, sondern bei einem zentralen Anbieter gekauft werden muss. Die Quintessenz dieses Machtmechanismus ist einfach: Es geht darum, eine Gruppe strukturell und existenziell vom Zugang zu einer Technologie abhängig zu machen, die nicht eigenständig reproduzierbar ist, sondern zentral verwaltet wird. Es können zahlreiche Mechanismen dieser Art erfunden werden, es reicht aus, die Menschen von einem technologisch knappen und nicht autonom reproduzierbaren Gut (einer Therapie?) abhängig zu machen. Ein solcher Mechanismus kann im Prinzip eine direkte, „neo-feudale“ Machtausübung ermöglichen, ohne dass Vermittlungs- und Legitimationsmechanismen erforderlich sind.
Eine letzte Bemerkung: Hier von „Neo-Feudalismus“ zu sprechen, ist ein irreführender Ausdruck. Wir haben es mit einem System zu tun, in dem wir es zwar mit einer geschlossenen hierarchischen Gesellschaft zu tun haben, ähnlich dem Feudalismus, die auf realer und nicht auf flüssiger Macht und Eigentum beruht, aber alle anderen Aspekte sind grundlegend anders, und zwar nicht im positiven Sinne. Es wäre eine Welt, in der eine höhere Kaste ihre Macht durch Furcht ausübt, da sie als ultimative Quelle der Autorität das, was im Feudalismus Gott war, durch die Technologie ersetzt hat. Es wäre eine Gesellschaft der direkten Befehlsgewalt, ohne Vermittlung durch eine ideologische Bindungskraft, eine Gesellschaft, in der die technische Effizienz angebetet wird und die Untermenschen außerhalb der oberen Kaste als Rohmaterial betrachtet werden, über das man nach Belieben verfügen kann.
Dieses Bild erinnert in der Tat nicht an den Feudalismus, sondern an eine Erfahrung, die uns viel näher liegt, nämlich den Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus war, abgesehen von seinen esoterischen und heidnischen Untertönen, im Wesentlichen eine Verehrung direkter Gewalt, die einer überlegenen Kaste zugeschrieben und mit rigoroser Produktivität und Effizienz ausgeübt wurde, wobei der Mensch selbst als manipulierbares Mittel (Eugenik) oder versklavte Ressource (KZ) betrachtet wurde.
So könnten wir eines schönen Tages entdecken, dass das Dutzend Jahre, in denen der Nationalsozialismus seinen kurzen und unrühmlichen Auftritt in der Geschichte hatte, nur die erste Erprobung von Instanzen und Tendenzen war, die ein Jahrhundert später eine ganz andere Festigkeit erlangen sollten.
Danke fürs Übersetzen und Posten!
Chile war das Labor für den Neoliberalismus.
Die Ukraine ist das Labor für den Globalfaschismus.